Liebe aus der Ferne

Paare, deren Alltagswelten weit voneinander entfernt liegen, leben sich „natürlich“ auseinander. Aber die Partnerschaften müssen deswegen nicht scheitern.

Das Zeitalter der Mobilität

Wir haben uns auseinander gelebt.“ Oder: „Wir sind uns so fremd geworden.“ Solche Sätze bekommt jeder Paarberater zu hören. Auch bei den Scheidungsgründen haben sie ihren festen Platz. Beziehungen, in denen die Partner räumlich getrennt voneinander leben, scheinen für solche Entwicklungen „natürlich“ besonders anfällig. Im Zeitalter der Mobilität betrifft das immer mehr Paare: Soldaten, Flugzeugpersonal, Manager, Fernfahrer, Politiker, Studenten, Seeleute und viele andere erleben immer wieder oder gar regelmäßig Phasen, in denen sie vom Partner viele Auto-, Zug- oder Flugstunden entfernt sind. Manche erleben dies Wochenende für Wochenende, andere sind gar über Monate hinweg getrennt. Die Erforschung solcher Fernbeziehungen lässt wiederkehrende Gefühlskreisläufe erkennen (die sich übrigens ganz ähnlich auch in konventionellen Nahbeziehungen abspielen); sie zu beachten, kann dazu beitragen, manch vermeintliches Auseinanderleben besser zu verstehen und den Gegebenheiten vielleicht auch etwas den Schrecken zu nehmen.

Eine Beziehung, zwei Welten

Ein Kernproblem von Fernbeziehungen: Bei jedem Wiedersehen kommen die Partner aus gänzlich verschiedenen Alltagen; bei der Rückkehr des einen prallen mindestens zwei, bei Paaren mit Kindern womöglich auch drei oder mehr verschiedene Lebenswelten aufeinander. Eine zentrale Herausforderung für die Paare ist es daher, dass sie stets neu eine eigene Form der Kommunikation entwickeln müssen, die ihrer individuellen Situation angepasst ist; sie müssen versuchen, die unterschiedlichen positiven und negativen Erlebnisse im Alltag, ihre jeweiligen Befindlichkeiten, Erwartungen, Hoffnungen, Ängste und Befürchtungen mitzuteilen, einander ihre entfernten Erlebnis- und Gefühlswelten erlebbar werden zu lassen. Diese Herausforderung stellt sich auch bei Menschen, die in Nahbeziehungen leben. Allerdings treten „Fehlentwicklungen“ nach längeren Abständen deutlicher zu Tage, während sie sich in Nahbeziehungen oft über Jahre einschleichen.

Neben der gelingenden Kommunikation entscheiden weitere zentrale Erfüllungs- und/oder Belastungsfaktoren darüber, wie zufrieden stellend oder eben belastend Paare ihre Beziehung erleben:

  • Liebe
  • Geborgenheit/Intimität und Vertrauen
  • erfüllende Sexualität

Dazu kommen Kernkompetenzen wie die Fähigkeit, gemeinsam Probleme lösen zu können, Stress zu bewältigen sowie die grundlegende Bereitschaft zur Versöhnung.

Verschiedene Aspekte dieser „Säulen“ können Paare in Fernbeziehungen nicht auf konventionelle Weise wie in einer Nahbeziehung leben. Das gilt offensichtlich für eine erfüllende Sexualität; aber auch Liebe verlangt nach Nähe und eben nicht nur nach Integration von Distanz. Geborgenheit will körperlich im Sich-Anlehnen und-Fallenlassen-Können gespürt werden. Die Möglichkeiten, diese zentralen „Säulen“ der Partnerschaft überhaupt zu verwirklichen, gibt der Rhythmus des Wechsels von intensiver Nähe und oft weiter Entfernung vor. Die Paare können dabei keine entstandenen Defizite nach dem Wiedersehen aufholen, noch können vor der erneuten Abreise „Vorräte“ angelegt werden. Partnerschaft bleibt unter diesen Bedingungen ausdrücklich stets ein Neuanfang. Auch in manchen Nahbeziehungen geben berufliche Notwendigkeiten wie familienunfreundliche Abend- oder Wochenendtermine einen Rahmen vor, der den Begegnungsmöglichkeiten von Paaren in einer Fernbeziehung gleicht. Sowohl Kommunikation als auch Geborgenheit und erfüllende Sexualität können die Partner in einem solchen Rahmen oft nur bruchstückhaft erleben.

Jedes Treffen ein neuer Anfang

Dabei erleben viele Paare bestimmte Abläufe und Gefühlsentwicklungen bei aller Individualität immer wieder auf ähnliche Weise:

  • Distanzierung, Rückzug vom Partner, Verdrängung der Problematik
  • Wut und Zorn auf den Partner und/oder auf seinen Beruf, extreme Traurigkeit, Einsamkeitsgefühle bis hin zur Depression, schließlich (im Idealfall) langsame Akzeptanz des veränderten Zustandes
  • Bei dauerhafter Unzufriedenheit mit der Qualität der Beziehung zunehmende Distanzierung bis hin zu einer möglichen Trennung oder Annahme der Fernbeziehung, gefolgt von Bemühungen um eine Neugestaltung der Partnerschaft, der Bereitschaft zu neuem oder intensiviertem Austausch mit dem Partner.

Konkret bedeutet dies: Unmittelbar vor der Abreise distanzieren sich viele Partner. Die (erneut) bevorstehende Trennung wird schon vorab betrauert („prospektive Trauer“). Umgekehrt zeigen andere Partner zu genau dieser Zeit ein außergewöhnlich hohes Anlehnungsbedürfnis und versuchen, die verbleibende gemeinsame Zeit möglichst innig zu gestalten; aber auch bei ihnen werfen die Trennung und der belastende Alltag danach schon ihre Schatten voraus. Gefühlskollisionen sind dann vorprogrammiert. In Wochenendbeziehungen macht sich jetzt ein „Sonntagsgefühl“ breit: Ab Mittag beginnen oft Planungen für die Abreise und die kommende Woche. Sie belasten die verbleibende gemeinsame Zeit und sorgen für ein Gefühl der Beklemmung unter den Partnern. Die gemeinsame Zeit scheint bereits beendet. Ähnlich wie vor belastenden Ereignissen oder auch in Phasen, in denen die Partner die gemeinsame Zeit besonders intensiv nutzen wollen, kommt es in dieser Vor-Trennungs-Phase häufig zu Diskussionen und Streit. Diese Disharmonien sind „normal“. So bedeuten nicht gezeigte Gefühle keineswegs automatisch, dass die Emotionen gänzlich fehlen würden, sondern nur schwer gezeigt werden können. Solche Einsichten bedeuten für viele Betroffene bereits eine große Erleichterung.

Montagsgefühle - Freitagsgefühle

Das typische „Montagsgefühl“ unmittelbar nach der Abreise und während der Woche ist oft von „Verlorenheit“ geprägt, nicht selten verbunden mit den besagten Gefühlen Wut, Zorn und Traurigkeit; viele Frauen und Männer erleben dabei heftige Gefühlsschwankungen („emotionale Desorganisation“). Doch mit zunehmender Erfahrung mit der Distanzbeziehung, kann sich die Gefühlswelt zunehmend stabilisieren. So wird den Partnern im Idealfall langfristig ein vertrauterer Umgang mit dem Alleinsein möglich. Zwar erleben die Partner im Verlauf der Woche, je nach Qualität der Beziehung, immer wieder Episoden von intensiver Sehnsucht und Einsamkeit („Jojo-Effekt“); doch können langfristig auch Chancen und Freiräume erkannt bzw. gestaltet werden. Die Bewältigung der Trennung kann dann Selbstbewusstsein und Beziehungsstabilität stärken.

Kurz vor dem Wiedersehen beginnen Vorbereitungen für die gemeinsame Zeit; die Paare schmieden Pläne. Doch dann prallen – nach der ersten Freude über das Wiedersehen – oft wieder die unterschiedlichen Lebens- und Alltagswelten aufeinander. Anstelle der erhofften Harmonie erleben die Paare bisweilen unerfüllte Erwartungen, Meinungsverschiedenheiten und Streit (der „Weihnachtseffekt“); die Enttäuschung darüber nährt den Verdacht: Haben wir uns doch auseinander gelebt? Sind wir uns fremd geworden

Das ganz normale Auseinanderleben

Auch hier hilft es Paaren zu wissen: Diese Erfahrungen sind „normal“, das neue Aneinander-Gewöhnen braucht Zeit. Sich wieder aneinander zu gewöhnen dauert ungefähr so lange wie die Trennung – und bis zu 50 Prozent länger. Nach einer Trennung von vier Monaten, etwa nach einem Auslandseinsatz, brauchen Paare also vier bis sechs Monate, um wieder ein Team zu werden; dann erst sind wesentliche Rituale, Zuständigkeiten und der Umgang miteinander neu eingespielt.

Diese Faustregel verdeutlicht zugleich, warum gerade Wochenendbeziehungen besonders belasten. Die Partner sehen sich zwar öfter, doch auf Dauer reicht die knapp bemessene, gemeinsame Zeit kaum aus, um die getrennte Zeit, den entfernten Alltag, aufzuarbeiten. Die subjektiv wahrgenommene „Partnerschaftsphase“ reduziert sich nach den Stürmen des Wiedersehens („Freitagsgefühl“) auf den Samstag und den halben Sonntag. Diese kurze Zeitspanne für die Aufarbeitung des Vergangenen, die Planung und Gestaltung des Kommenden sowie den Austausch von Gefühlen, Erwartungen und Ängsten birgt die Gefahr einer „Veroberflächlichung“ der Beziehung, ähnlich wie sie konventionellen Nahbeziehungen im „Hamsterrad“ des Alltags droht.

Zauberformel „quality time“

Bei aller Sehnsucht nach einem gemeinsamen Alltag, bei aller Not, die die Distanz für Paare mit sich bringt: Wenn die Partner lernen, sich mit den Belastungen der Partnerschaft auf Distanz zu arrangieren und die Freiräume zu nutzen, die sie eröffnet, dann bieten Fernbeziehungen eine besondere Chance, Partnerschaft intensiv und kreativ zu gestalten und zu entwickeln. Ein Zauberwort dafür heißt „quality time“: festgelegte Zeiten und Rituale, die einen exklusiven, wertvollen Raum für Partnerschaft, Kinder, aber auch für sich selbst mit z. B. Hobby, Erholung oder Sport sicherstellen. Die Stabilität der „Säulen“ Liebe, Geborgenheit, Kommunikation, Sexualität hängt auf Dauer weniger von der Quantität als von der Qualität ab.

Die zweite Grundregel für eine gelingende Fernbeziehung lautet: Die Paare müssen der Nähe (und dem immer wieder neu notwendigen Nähe-Suchen!) mindestens den gleichen Stellenwert einräumen wie dem Beruf und dem wichtigsten Hobby. Dazu gehört: auch während der Trennung regelmäßig kommunizieren, einander über die eigenen Bedürfnisse – und die der Kinder – informieren, Verstimmungen und Konflikte sofort ansprechen, gemeinsam Perspektiven entwickeln, gemeinsam verlässliche Zeiten für Zweisamkeit, für die Kinder, für individuelle Bedürfnisse planen. Aber auch: die gemeinsamen Zeiten nicht mit Erwartungen überfrachten, Raum für „Nichtstun“ und für spontane Bedürfnisse oder Notwendigkeiten lassen.

Das Durchbrechen des „Funktionierenmüssens“ ist eine Notwendigkeit, damit sich Paare und Familien nicht aus den Augen verlieren. Nur mit Hilfe solcher Zeitinseln können sie die „normale“ Entfremdung und das dem Alltag geschuldete Auseinanderleben verhindern.

Peter Wendl